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helfende engel

„Superman kommt nicht, uns zu retten“ steht in großen schwarzen Buchstaben auf einer Telefonzelle in Porto. Letztes Jahr, in meinem Urlaub, fand ich das nicht schlimm. Momentan würde ich mir schon wünschen, dass es da einen Superman oder eine Superwoman gäbe, die uns vom Corona-Virus und seinen Folgen retten könnten. Superman kann fliegen, ist stark wie eine Lokomotive, schneller als eine Pistolenkugel und nahezu unverwundbar. Aber ob er auch gegen Viren immun wäre? Und selbst wenn, was sollte er gegen das Virus ausrichten können? Nein, eine einfache Rettung vor dem Virus durch einen Superhelden wird es nicht geben. Wir alle sind gefragt, wir alle sind in der Verantwortung. Um Verantwortung zu übernehmen braucht es keine Superkräfte. Die Eigenschaften, die es dafür braucht sind: Achtsamkeit. Ich muss die anderen wahrnehmen, merken wie es ihnen geht, was sie brauchen. Nur, wenn ich Menschen wahrnehme, kann ich Abstand zu ihnen halten oder ihnen helfen. Was es noch braucht: die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen. Sich selbst einzuschränken um der anderen willen. Mich nervt die Maske auch, aber um der anderen willen trage ich sie gerne. Ich hasse es, in Warteschlagen zu stehen, aber um die anderen Kundinnen und Kunden und die Angestellten nicht zu gefährden, nehme ich es gerne in Kauf. Was noch hilfreich ist: Solidarität. Die unterstützen, die gerade besonders leiden. Für die da sein, die sonst niemanden hätten. Das ist oft ganz einfach und kann sogar für mich angenehm sein. Essen bestellen, Kino on demand, Nachbarschaftshilfe - alles ohne Superkräfte machbar. Was noch hilfreich ist? Kreativität, neue Wege gehen, wenn die üblichen gerade nicht funktionieren und eine Portion Humor. 
Nein. „Superman kommt nicht, uns zu retten.“ Aber wir alle können Superheldinnen und Superhelden sein.
Ich kenne viele solcher Superheld*innen, viele helfende Engel. Viel zu selten hören sie ein einfaches "Danke" für ihr Engagement. Deshalb bedanken sich Seelsorger*innen im Dekanat Saarbrücken momentan exemplarisch bei einigen von ihnen und schenken ihnen einen Engelanhänger, handgefertigt und gestiftet von der Firma Gemsessions in Saarbrücken. Mehr zu dieser Aktion findet ihr bei facebook mit dem hashtag #helfendeengel. Und wenn ihr auch jemandem mit einem solchen Engel danken wollt, meldet euch gerne bei uns.

von Katrin Altmaier 29. März 2025
Zum Beginn der christlichen Fastenzeit hören wir den Satz: „Staub bist du und zu Staub kehrst du zurück.“ Mein erster Gedanke hierzu war: Das macht doch sehr demütig. Es ist eine erinnernde Mahnung daran, dass wir alle sterben müssen. Ich höre darin auch ein: „Nimm dich nicht so wichtig.“ Und das ist schon fast entlastend. Demütig sein heißt dabei nicht, sich selbst kleiner zu machen, als man ist – auch wenn die christliche Tradition das oft so praktiziert hat. Hier gab es immer wieder eine Gratwanderung zwischen besonnener Selbstbetrachtung und maßloser Selbsterniedrigung, die letztendlich doch wieder in einer Überheblichkeit gegenüber all denjenigen mündete, die diese Selbsterniedrigung nicht praktizierten. Nein, besser gefällt mir der Gedanke von Carolin Emcke, die von einem „entschützten Leben“ spricht: Ein Leben, in dem wir uns weniger voneinander abschotten. In dem wir uns entpanzern, offener werden und entschützter miteinander umgehen. In dem wir feinfühliger gegenüber dem sind, was uns tatsächlich begegnet, und entsprechend darauf reagieren. Ein Leben, in dem wir nicht unwichtig sind – aber alle anderen ebenso wichtig. Das verändert etwas. Denn dann sehen wir nicht nur uns selbst, sondern erkennen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind – indem wir alle gemeinsam unterwegs sind. (Katrin Altmaier, KHG Saarbrücken )
von Katrin Altmaier 20. März 2025
Versöhnlich zu sein fällt mir oft wahnsinnig schwer. Dabei weiß ich, dass es mir guttun würde. Das Gefühl des Gegeneinanders, der Wut, schadet mir auf Dauer. Ein versöhnlicher Blick auf die Menschen um mich herum, auf mich selbst und auf unsere Umwelt enthärtet mein Herz und weitet meinen Blick. Es lässt mich empathischer sein und führt wiederum dazu, dass ich mich mehr verbunden mit anderen fühle. Als Christ*innen glauben wir daran, dass G*tt sich schon längst mit uns versöhnt hat in dem er in Christus die Entfremdung zwischen Mensch und G*tt überwunden hat. Christus hat dies praktisch im Akt der vollkommenen Zurücknahme des eigenen Wesens gemacht. Er legte die g*ttliche Gestalt ab. Und das aus Liebe zu uns. Versöhnlich kann ich also nur sein, wenn ich mich selbst zurücknehme, wenn ich bereit bin, ehrlich darauf zu schauen, was mich so unversöhnlich stimmt und wenn ich offen dafür bin, den anderen Menschen als gleich wichtig und gleichwertig zu betrachten, zuzuhören und verstehen zu wollen. Wenn ich mir den anderen Menschen sozusagen „entfremde“. Das ist herausfordernd und es hat Grenzen. Mit manchen Handlungen und Haltungen kann ich mich auch nicht versöhnen.
von dr.in martina fries 20. März 2025
Die Fastenzeit startet mit dem Aschenkreuz. Die Asche, mit der dieses auf die Stirn gezeichnet wird, ist hergestellt aus Palmzweigen des letzten Jahres. Asche ist das, was übrigbleibt wenn Organisches verbrennt. Sie verbindet also alles Lebende miteinander. Am Ende sind alle und alles gleich. Das Aschenkreuz ist also auch ein Zeichen dafür, dass jede*r einzelne von uns mit allem und allen verbunden ist in der Herkunft und dem Ziel des Seins. Der amerikanische Psychologe Carl Rogers hat gesagt: „Das Persönlichste ist das Allgemeinste“. Dies wendet den Gedanken, dass alle Menschen rein physikalisch miteinander verbunden sind, auf das emotionale Sein des Menschen an. Jede*r kennt Verzweiflung, Schmerzen, Liebeskummer, Freude, Euphorie und viele weitere Gefühle. Auch wenn die auslösenden Ereignisse, die Beteiligten und die Situationen ganz andere sind – die Emotion verbindet uns miteinander. Und im Glauben setzen wir sogar noch eins drauf: Christ*innen glauben, dass alle Menschen g*ttlich sind und darin einander völlig ebenbürtig. Und dass G*tt selbst in Jesus Christus Mensch geworden ist und deshalb in allem (außer der Sünde) uns gleich, physikalisch wie emotional. Ich bin mit allem und allen verbunden – eine Haltung, die Ohnmacht, Vereinzelung, Spaltung und Hass überwinden kann.
von katrin altmaier 6. März 2025
Gestern war Aschermittwoch und damit der Start in die christliche Fastenzeit. Auch wenn wir gerade so schöne sonnige Tage genießen dürfen, im Fokus des Aschermittwochs und der Austeilung des Aschenkreuzes an diesem Tag steht in kirchlicher Tradition weniger das Licht , sondern Buße und Fasten und die Erinnerung an Staub und Tod. In diesen Wochen kommt dazu noch das lähmende Gefühl, das sich seit der zurückliegenden Bundestagswahl zunehmend ausbreitet. Auch wenn die Ergebnisse zu erwarten waren, sind sie nun Gewissheit und in dieser Gewissheit erst recht angsteinflößend. Gerade die letzte Woche mit den verstörenden Bildern aus den USA und dem Anschlag in Mannheim haben bei mir nochmal das Gefühl der Ohnmacht verstärkt und zu ihr haben sich Wut und Verzweiflung gesellt und das Bedürfnis, den Kopf in den Sand zu stecken. Aber dann kommt die Frage in mir auf: Wohin führt diese Haltung auf Dauer? Mich, meine Umwelt und unsere gesamte Welt? Es wird nicht gut sein, wenn dieses Ohnmachtsgefühl zum ständigen Begleiter wird. Die Wochen der Fastenzeit, also der österlichen Bußzeit, in der es traditionell 40 Tage lang bis Ostern um Umkehr geht, sind ein guter Anlass, andere, vielleicht auch neue Wege zu suchen. Für die Fastenzeit wollen wir dir im Laufe der nächsten Wochen immer wieder Haltungen anbieten. Haltungen, die vom Aschermittwoch ausgehend helfen können, aus dem Gefühl der Ohnmacht (und vielleicht der daraus resultierenden Wut, Traurigkeit, Angst etc.) herauszutreten. Diese Haltungen teilen wir immer am Donnerstagabend bis einschließlich Gründonnerstag.
von martina fries 17. Februar 2025
Sicherheit, Stabilität, Recht und Ordnung, Mehr und Wieder – um diese Zustände kreisen die Versprechen der Parteien zur Bundestagswahl. Sie greifen die Sehnsucht der Menschen auf. Niemand will in Unsicherheit, Chaos und im Untergang leben. Doch stimmt diese Analyse, die die Wahlkampfslogans der Parteien ja nur behaupten? Warum müssen wir wieder stolz sein? Warum sind wir es nicht einfach? Warum muss alles geändert werden? Ist wirklich alles so schlecht? Und so chaotisch? Und so ungerecht? Und so gefährlich? Ja, wir leben in unsicheren und gefährlichen Zeiten. Die Gegenwart ist so. Deshalb gibt es Freiheit auf der einen Seite, die zu Unsicherheit auf der anderen führt. Und sie ist gefährlich, weil die Klimakrise und der entfesselte Kapitalismus mit ihren Folgen uns bedrohen. Zu diesen Folgen gehört übrigens die Migration. Migrant*innen sind nicht die Ursache aller Probleme, sondern die Folge. Es ist verlockend, in der Unübersichtlichkeit der Gegenwart sich den einfachen Lösungen anzuschließen, den einseitig populistischen Stimmungsmacher*innen. Dass diese aber keine Lösungen für globale und extrem komplexe Probleme anbieten und diese sogar noch verschärfen, das zeigt die Geschichte der Vergangenheit wie Gegenwart. So verlockend es auch ist, mit Entweder-oder, wir gegen die, wird es nicht sicherer in unserer Welt. Nur, wenn wir diese propagierten Gegensätze überwinden und uns den Herausforderungen gemeinsam stellen, im Dialog, in Netzwerken, im wir, im sowohl – als auch, dann haben wir eine Chance, die Gegenwart möglichst gut zu gestalten. Was auch hilft: der genaue Blick auf diese Gegenwart: es ist nicht alles schlecht. Es gibt mehr als schwarz und weiß. Und: Vertrauen darauf, dass es gut ausgehen kann, selbst wenn alle Logik etwas anderes annehmen lässt. Mir hilft der Glaube beim Vertrauen und die Botschaft, dass Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt tragen können. So habe ich es nicht nötig, am 23.2. eine populistische oder gar extremistische Partei zu wählen. Dr. Martina Fries
von Martina Fries 23. Dezember 2024
Zum Start des Advent haben Besucher*innen des Weihnachtsgartens im Deutsch-Französischen-Garten Saarbrücken notiert, was für sie zuhause bedeutet, wo sie Kraft tanken, wo sie sich geborgen fühlen. Dem Wunsch nach einem sicheren, geborgenen Zuhause, einem Ort, an dem wir sein können, wie wir sind, der uns verschnaufen und durchatmen lässt, steht die Erfahrung des Unbehausten, des Fragilen, der Bedrohung gegenüber. 117 Millionen Menschen befinden sich weltweit derzeit auf der Flucht, haben ihr Zuhause verloren, leben in Unsicherheit, teils lebensbedrohlichen Situationen, haben keinen Ort zum Verschnaufen. 27 Kriege toben gerade in der Welt und bedrohen das Leben von Menschen auch dann, wenn sie noch in ihrem Zuhause leben. Menschliches Leben ist immer unsicher und bedroht. Gerade mussten wir das wieder schmerzhaft durch den Anschlag in Magdeburg auch in unserem Land spüren. Genau in dieses menschliche Leben kommt G*tt, um zu bleiben, das ist der christliche Glaube, der uns Weihnachten feiern lässt. Er kommt und liefert sich als hilfloses Baby ganz aus. Er teilt unsere Ohnmacht, unsere Unsicherheit, unsere Ängste und unsere Sehnsucht nach Frieden und einem sicheren Zuhause. Er ist da und damit sind wir nicht allein, so wie es dieser Text wunderschön beschreibt: "In die Lichtblicke Deiner Hoffnung und in die Schatten Deiner Angst, in die Enttäuschung Deines Lebens und in das Geschenk Deines Zutrauens lege ich meine Zusage: ICH BIN DA! In das Dunkel Deiner Vergangenheit und in das Ungewisse Deiner Zukunft, in den Segen Deines Wohlwollens und in das Elend Deiner Ohnmacht lege ich meine Zusage: ICH BIN DA! In das Spiel Deiner Gefühle und in den Ernst Deiner Gedanken, in den Reichtum Deines Schweigens und in die Armut Deiner Sprache lege ich meine Zusage: ICH BIN DA! In die Fülle Deiner Aufgaben und in Deine leere Geschäftigkeit, in die Vielzahl Deiner Fähigkeiten und in die Grenzen Deiner Begabung lege ich meine Zusage: ICH BIN DA! In das Glück Deiner Begegnungen und in die Wunden Deiner Sehnsucht, in das Wunder Deiner Zuneigung und in das Leid Deiner Ablehnung lege ich meine Zusage: ICH BIN DA! In die Enge Deines Alltags und in die Weite Deiner Träume und in die Kräfte Deines Herzens lege ich meine Zusage: ICH BIN DA!" (GL 839) Wir wünschen Ihnen den Trost dieser Zusage in allem, was im neuen Jahr kommt und schöne Feiertage!
von martina fries 4. August 2024
Kennen sie Anne Frank? Oder ihr Tagebuch? Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren. Sie war Jüdin. Deshalb wanderte ihre Familie 1934 in die Niederlande aus. Als die Verfolgung der Men-schen jüdischen Glaubens auch dort zunahm, versteckte sich ihre Familie 1942 in einem Hinterhaus in Amsterdam. Dort begann Anne Tagebuch zu schreiben. Ihr letzter Eintrag ist vom 1. August 1944. Sie schreibt: „… und (ich) suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn … wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden.“ Anne Frank wurde die Möglichkeit, sich so weiter zu entwickeln genommen. Am 4. August 1944, heute vor 80 Jahren, wurde die Familie entdeckt und ver-haftet. Anne Frank starb im Frühjahr 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Bis heute ist nicht sicher geklärt, ob das Versteck, in dem die Familie gelebt hatte, verraten oder zufällig gefunden worden ist. Es ist auch egal. Das Schicksal von Anne Frank zeigt exemplarisch, wozu Hass führt. Und wozu Menschen fähig sind – positiv wie negativ. Es gab die, die die Menschen, die von der nationalsozialistischen Ideologie als nicht lebenswert bezeichnet wurden, ignoriert, verfolgt, ausgeliefert, gequält oder getötet haben. Und es gab die, die dem Widerstand geleistet haben. Die widersprochen haben, die Menschen versteckt haben, die zur Flucht verholfen haben. Der Tag heute weist mich darauf hin, dass ich die Wahl habe. Ich kann mich für oder gegen das Leben entscheiden. Und ich muss es auch. Auch heute noch.
von martina fries 3. August 2024
Krieg oder Frieden, Aufstieg oder Abstieg, Sicherheit oder Freiheit. Einfache Antworten sind wieder voll im Trend. Das zeigen auch die Wahlergebnisse der letzten Zeit. Es bekommen die immer mehr Stimmen, die die einfachen Antwor-ten behaupten. Die die Komplexität der Gegenwart reduzieren. Das ist verlockend. Und es wäre schön einfach, wenn die Realität so funktionie-ren würde. Zum Glück funktioniert sie aber nicht so. Denn wo es nur zwei Alternativen gibt, gibt es immer nur das eine oder das andere. Und eines davon ist richtig und das andere falsch. Dass die Realität so einfach nicht ist, sieht man in der Natur. Oder bei den Far-ben. Da gibt es nicht nur zwei, sondern drei Grundfarben und in deren Kombi-nation eine unendliche Vielfalt. Wer diese Realität leugnet, kann also gar keine Antworten auf ihre Herausforde-rungen geben. Und noch etwas. Das Leben besteht ja nicht nur aus Antworten. Wie oft habe ich keine. Oder keine befriedigenden. Und muss die Fragen aushalten. Mir hilft beim Aushalten immer wieder ein Text von Rainer Maria Rilke. Er schreibt: „Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“ Die Fragen lieb zu haben bedeutet, die Realität ernst zu nehmen. Wer schnelle Antworten will, der geht an der Realität vorbei. Der findet nicht nur keine Antworten auf ihre Herausforderungen, sondern übersieht auch ihre schöne Buntheit. Hier als SR Zwischenruf nachhören.
von martina fries 2. August 2024
Die Schulferien dauern zwar noch ein bisschen, aber weniger lang, als sie schon gedauert haben. Die Tage werden wieder kürzer. Und der Sommer wird auch bald zu Ende sein. Vielleicht kennen sie dieses Gefühl, wenn etwas zu Ende geht, das sie aber noch länger genießen möchten. Wenn sich mitten im Urlaub der Alltag zurückmeldet. Oder wenn ich das faszinierende Buch fast ausgelesen habe. Auch die Kinder, die Astrid Lindgren bei ihren Urlauben auf Saltkrokan be-schreibt, kennen dieses Gefühl. Davon erzählt der folgende Text: "Im Allgemeinen aber war alles schön und der ganze Sommer eine einzige lange Wonne. Pelle fing schon an, sich vor dem grässlichen Tag zu graulen, da sie wieder in die Stadt zurück mussten. Er besaß einen alten Kamm mit ebenso vie-len Zähnen, wie der Sommer Tage hatte. Jeden Morgen brach er einen Zahn ab, und er sah voller Besorgnis, wie die Zahnreihe Stück für Stück kürzer wurde. Melcher entdeckte den Kamm eines Morgens, als sie beim Frühstück saßen, und er nahm ihn und warf ihn weg. Es sei verkehrt, sich vor etwas zu graulen, was doch kommen musste. Man sollte das Jetzt genießen, einen sonnigen Morgen wie diesen, dann sei das Leben nur Glück, fand Melcher." Mich erinnert dieser Text daran, dass es nichts hilft, sich vor dem zu fürchten, was zwangsläufig kommt: dem Alltag, dem Winter, dem Ende von irgendetwas. Noch mehr: wenn ich nur darauf schaue, dann verpasse ich es, das, was gerade ist, zu genießen. Das ist nicht nur beim Urlaub, einem tollen Buch oder einer besonderen Serie so. Das ist auch bei meinem Leben so. Wenn ich die ganze Zeit damit beschäftigt bin, mich vor dem Ende zu fürchten, dann verpasse ich das Jetzt. Und das ist doch oft ziemlich schön, nicht nur im Urlaub. SR Zwischenruf hier nachhören
von martina fries 1. August 2024
"Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt." Dieser Text stammt aus Köln. Von einer Kellerwand. Geschrieben während der Nazizeit von jüdischen Menschen, die sich dort versteckt hatten. Mich beeindruckte die trotzige Kraft dieses Textes schon immer. Mich fasziniert das Vertrauen, das er ausdrückt. Für den oder die Schreiber*in ist trotz der schlimmen Situation klar: Auch wenn die Sonne nicht scheint im Keller, ich weiß, dass sie da ist. Auch wenn ich gerade keine Liebe fühle, wenn ich von Menschen gehasst wer-de, verfolgt werde, weil ich so bin, wie ich bin, glaube ich, dass es Liebe gibt. Auch wenn von G*tt nichts zu sehen und zu hören ist, glaube ich, dass es sie gibt. Es ist ein kraftvoller, widerständiger Text. Er geht über das, was beweisbar, was sichtbar, fühlbar, erklärbar ist, hinaus. Er hält eine andere Dimension offen. Eine Dimension, ohne die ich nicht leben kann. Ohne Vertrauen, ohne Hoffnung würde mir die Luft zum Atmen fehlen. Mit der Luft ist es wie mit der Sonne, der Liebe und G*tt. Das in ihr, was mich am Leben hält, der Sauerstoff, ist nicht sichtbar. Ohne ihn ersticke ich. Heute vor 250 Jahren hat der Brite Joseph Priestley den Sauerstoff entdeckt. Für mich ist dieser Tag eine Erinnerung daran, dass im Leben nicht nur das wichtig ist, was ich sehe, rieche, fühle, schmecke, höre sondern auch das, was für meine Sinne unsichtbar und meinen Verstand unerklärbar ist. Zum Nachhören als SR Zwischenruf hier
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