welt:raum blog
fragil

Am 12.4.2022 fand nach Corona(online)pause endlich wieder Kunst (be)trifft in Kooperation mit dem Saarlandmuseum
in der Ausstellung "Joy in the Pain" von Claire Morgan
in der Modernen Galerie statt.
Hier die Gedanken der Impulsgeberinnen:
"Was bedeutet das Wort fragil? Der Duden sagt: „zerbrechlich“ oder „zart“. Zerbrechlich und zart wirken auch die Kunstwerke der nordirischen Künstlerin Claire Morgan (*1980). Morgan lebt und arbeitet in Gateshead, Großbritannien und erschafft raumgreifende Installationen, Skulpturen, aber auch Gemälde und Zeichnungen. Ihre Ausstellung in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums heißt „Joy in the Pain“ – übersetzt bedeutet das „Freude im Schmerz“. Ein sehr wirkmächtiger Titel, der Claire Morgans Kunst ganz wunderbar spiegelt. Ihre Werke behandeln die Ambivalenz zwischen Leben und Tod und bewegen sich eindrucksvoll zwischen Schönheit und Gewalt. Besonders setzt sie sich mit dem Menschen und seinem Verhältnis zur Natur auseinander. Der Gedanke dahinter: Der Kreislauf des Lebens schließt uns alle mit ein – ob Pflanzen, Tierarten oder eben der Mensch. Claire Morgan arbeitet mit natürlichen und künstlichen Materialien. Zum Einsatz kommen neben Tierkörpern (Taxidermien) Pflanzen, Äste, aber auch Nylon und Plastik. Insbesondere die Taxidermien faszinieren und stoßen ab – hier ist Claire Morgans Kunst besonders konfrontativ. Die Arbeiten sollen eindringlich sein und den Betrachter*innen die eigene Verletzlichkeit vor Augen führen – zerbrechlich, aber eben auch schön. Claire Morgan sagt zur Verwendung natürlicher Materialien, dass sie auf diese Weise auch den Tod in die Arbeit miteinlässt.
Vor einiger Zeit hatte die Künstlerin einen gestrandeten Buckelwal in Blyth (Northumberland, UK) am Strand sehen können. Diese Erfahrung war Inspiration für die Installation All the Things I have ever lost (2020-2021). Die Künstlerin wollte etwas erschaffen, das sowohl massiv und überwältigend als auch „verletzlich“ erscheint. Die 14 Meter hohe Fadeninstallation besteht aus Tausenden von blauen Plastiktütenschnipsel, die eine Teil des Atriums im Erweiterungsbau der Modernen Galerie raumgreifend einnehmen. Die Form der zarten Nylonfäden mit unzähligen Einzelteilen ergibt einen kopfüber aufgehängten Right Whale, der mit der Schnauze im Museumsboden aufgeht. All the things I have ever lost lässt die Grenze zwischen Kunstwerk und Betrachter verwischen: Besucher*innen können in die Installation hineintreten, um das Werk herumgehen. Sie werden Teil des Kunstwerks und somit unmittelbar zur Installation in Beziehung gesetzt.
Mit All the things I have ever lost sind wir nicht nur mit dem Kunstwerk als unser Gegenüber konfrontiert, sind nicht nur Betrachter*in, sondern werden ein unmittelbarer Teil der Installation. Als dystopisches Symbol macht das Werk deutlich: Auch was die Natur und ihre Vereinnahmung durch den Menschen angeht, können wir uns nicht in eine Betrachter*innenrolle zurückziehen. Alles ist verbunden und voneinander abhängig. All the things I have ever lost ist Ausdruck eines kollektiven Schmerzes, eines Verlustes – entstanden durch die Folgen der Zerstörung, die auch uns bedrohen.
Das Kunstwerk wurde extra für diesen Raum im Erweiterungsbau angefertigt und erstreckt sich raumgreifend bis in den 4. Stock. Da es sich im Besitz des Museums befindet, wird es auch nach Ende der Ausstellung „Joy in the Pain“ in Saarbrücken bleiben und weiterhin zu sehen sein!" (Laura Valentini)
"Claire Morgan arbeitet mit den Körpern verstorbener Tiere und kombiniert diese mit Naturmaterialien und Plastikfetzen zu filigranen Kompositionen. Die Kombination von Natur und synthetischem Material erzeugt eine faszinierende Optik, die wir im ersten Moment als schön und beeindruckend empfinden. Wenn wir jedoch genauer hinschauen, erkennen wir neben dem Schönen auch einen negativen Aspekt. Die Künstlerin hat für diese gigantische Installation auf blaues Plastik zurückgegriffen, woraus wir auch einen kritischen Denkanstoß ableiten können. In den letzten Jahren wird immer deutlicher, wie sehr wir Menschen das empfindliche Gleichgewicht der Natur durch unser Verhalten negativ beeinflusst haben. Der größte Teil des Plastikmülls, der auf der gesamten Erde jährlich anfällt, landet im Meer. Tiere verfangen sich darin, fressen Teile der Abfälle und verhungern qualvoll daran. Auch beim Zersetzungsprozess des Plastiks werden gefährliche Inhaltsstoffe freigesetzt, die sich negativ auf die Meereslebewesen, aber möglicherweise auch auf uns auswirken können, wenn wir diese Tiere verzehren. Auch auf Wiesen, im Wald oder am Straßenrand sieht man häufig Abfälle, die unterwegs achtlos entsorgt wurden. Wir Menschen sind auf die Natur, die Pflanzen und Tiere angewiesen, ebenso wie diese auf uns.
Auf theologischer Ebene gesprochen können wir uns in diesem Zusammenhang an den „Herrschaftsauftrag“ (Gen 1,28) erinnern. Gott bietet dem Menschen zwar die Erde als Nutzfläche an, jedoch mit der Bedingung, seine Schöpfung, die Pflanzen und Tiere zu schützen und zu bewahren und schonend mit den Ressourcen umzugehen, über die wir verfügen dürfen.
Die Idee für "den Wal" lieferte der Künstlerin ein am Strand verendeter Wal. Wir werden als BetrachterInnen damit konfrontiert, wie dicht Leben und Tod beieinander liegen. Die Verbindung von Leben und Tod kann uns auch an die Karwoche, in der wir uns gerade befinden, erinnern. Christen führen sich in dieser Woche Tod und Leiden Jesu vor Augen, besinnen sich auf ihren Glauben und schöpfen neue Hoffnung." (Eva Keller)
Der nächste Termin Kunst (be)trifft:
5.7.2022, 16.30-17 Uhr I durchströmt zur Ausstellung "Elemente - Wasser"
(Foto: Claire Morgan, If you go down to the woods today, 2014, Muntjakhirsch (Taxidermie), Schmetterlinge, zerrissene Polyethylenfolie, Nylonfaden, Blei, 300 x 300 x 250 cm / 118 x 118 x 98 1/2 in CM/S 65, Courtesy of Galerie Karsten Greve Köln Paris St. Moritz © Claire Morgan, Foto: Tom Gundelwein)

Ich sitze im Auto. Ich höre Musik und bin in Gedanken noch bei dem schönen Geburtstag, von dem ich komme. Da fällt mir ein Schriftzug an einem Schuppen neben der Autobahn ins Auge. „vergiss“ ist da mit weißer Farbe gesprayt. „vergiss“. Wer hat das wohl dahin geschrieben? Und für wen? Und warum? Wer soll was vergessen? Vom Vergessen erzählt auch eine Geschichte der Bibel: Es ist der Morgen nach dem Tod Jesu. Zwei seiner Jünger sind auf dem Weg nach Hause. Eine Welt ist mit seinem Tod für sie zusammengebrochen. All ihre Hoffnungen und Zukunftspläne sind zerstört. Sie wollen nur noch weg von Jerusalem und vergessen. Unterwegs schließt sich ihnen ein Fremder an. Er interessiert sich für sie. So erzählen sie ihm alles, was sie mit Jesus erlebt haben und wie er gekreuzigt worden ist. Das Erinnern tut ihnen gut. Zuhause angekommen laden sie den Mann zum Abendessen ein. Wie er das Brot bricht, erinnert sie an das letzte Abendmahl mit Jesus. Sie erkennen ihn in diesem Mann. Und obwohl es schon Abend ist und der Weg zurück nach Jerusalem weit brechen sie sofort auf. Sie haben erkannt, dass sie gar nicht vergessen müssen. Dass alles wertvoll ist. Dass alles zu ihrem Leben, ihrer Geschichte gehört. Und dass sie diese mit anderen erinnern und teilen und wachhalten wollen. Das ist für mich eine Botschaft des heutigen Ostermontags: Alles, was wir erlebt haben, gehört zu uns. Das Schöne und das Schreckliche. Manchmal braucht es eine Zeit des Vergessens, aber alles, was wir erlebt haben, macht uns aus, formt uns und kann eine Bereicherung sein. SR Zwischenruf am 21.4.2025

Zum Karfreitagsgottesdinst waren KHG und welt:raum im Wald am Saarbrücker Sonnenberg unterwegs. Dem Tag und Ort entsprechend machte sich die Gruppe Gedanken zum Thema Grenzen. Da dieses ein zeitloses Thema ist, stellen wir die Impulse hier zur Verfügung. Die wohl extremste Grenzerfahrung im Leben eines Menschen ist der Anlass des heutigen Gedenktages: Jesus stirbt.: Leidensgeschichte (Joh 18,1-19,42) "Bis hierher und nicht weiter" Wenn wir über Grenzen sprechen, verbinden wir in erster Linie damit Einschränkungen. Von außen gesetzte Stoppzeichen. Es gibt Grenzen, die unüberwindbar erscheinen. Hier in der Nähe der grünen Grenze merke ich nichts von der unüberwindbaren Mauer. Zu anderen Zeiten oder an anderen Orten reißen vielleicht sogar willkürlich gesetzte Grenzen Familien und Freundschaften auseinander. Von heute auf morgen ist nichts mehr wie es war. Wenn ich diese Grenze überschreiten will, braucht es Mut. Ich muss vielleicht erst viele Grenzen in mir selbst überwinden, bevor ich aufbrechen kann. Andererseits können sich Grenzen von heute auf morgen verändern. Hier im deutsch-französischen Grenzgebiet haben wir selbst erlebt, dass Grenzen nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Auch meine eigenen Grenzen verschieben sich. Ein Erlebnis oder eine Begegnung mit einem Menschen können bekannte Strukturen ins Wanken bringen. Wenn ich nun auf mein eigenes Leben zurückschaue: >Welche Grenzen haben sich in meinem Leben verändert? >Und von welchen Grenzen in meinem Leben würde ich mir wünschen, dass sie sich verändern? Wege Wir gehen einen Weg, er ist breit und wir überblicken ihn auf eine weite Strecke. Auf einem solchen Weg fühlen wir uns im Wohlvertrauten, Bekannten, Sicheren. Und dann reizt es uns, einen anderen Weg einzuschlagen, aus dem Wohlvertrauten abzuzweigen und einen neuen Weg zu suchen, ein neues Ziel in den Blick zu nehmen; der Weg führt uns durch unwegsameres Gelände. Wir haben uns durch das Unterholz geschlagen, haben sogar einen Baum übersteigen bzw. umgehen müssen – das alles in der Hoffnung auf einen anderen als den gewohnten Weg, neugierig auf etwas, was wir uns am Ende des neuen Weges zu finden hoffen und landen in einer Mulde, aus der der Weg nicht mehr weiterführt – das Gelände setzt uns eine Grenze. An solch einer Stelle können wir uns fragen: was ist – im übertragenen Sinn - mit meinen Lebenswegen? An welche Grenze stoße ich gerade? Welcher hoffnungsvolle Weg, den ich mit Freude und Erwartungen eingeschlagen habe, führt nicht weiter? Wie können wir mit solch einer ‚Grenz‘situation umgehen? Nun, wir können versuchen, aus der Mulde herauszukommen in der Hoffnung, dass wir aus eigener Kraft die Hindernisse überwinden und der Weg doch weiterführt. Wir können uns die Hilfe von Anderen holen. Und schließlich: Wenn wir keine Aussicht auf ein Weiterkommen haben, dürfen wir aber auch zurückgehen auf den ‚sicheren‘ Weg und uns von dort nach anderen Erfahrungen und Wegen umsehen. Politische und persönliche Grenzen Hier befinden wir uns genau an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Diese Grenze, die überhaupt nicht zu sehen ist, wurde, genau wie alle anderen Nationalgrenzen, willkürlich gesetzt. Diese Willkür hat für sich bereits etwas Gewalttätiges. Irgendwann haben Menschen beschlossen, dass eine Grenze durch diesen Wald verläuft. Und somit Menschen in zwei Sorten, zwei Arten aufteilt. Da „Franzosen“ hier „Deutsche“. Historisch betrachtet war diese Grenze nie eine feste Größe, wer zu Deutschland gehört und wer zu Frankreich hat sich über die Jahrhunderte immer und immer wieder geändert. Die Grenzziehung – und konkret sogar gerade diese Grenzziehung zwischen Deutschland und Frankreich - haben Europa viel Krieg und Leid beschert. Erst der Gedanke und schließlich auch die Umsetzung eines grenzfreien Raumes haben uns Frieden gebracht. Und doch gibt es wieder ein “wir” und “die anderen” und Gewalt und Tod an europäischen Grenzen: nun an der langen europäischen Außengrenze und es gibt wieder Forderungen nach und Durchsetzung von mehr Grenzkontrollen innerhalb Europas. Wer hier Grenzen zieht, steht auf der Seite der Macht bzw. der Mächtigen. Wer versucht, Grenzen zu überqueren, sie zu hinterfragen, sie gar zu bekämpfen, steht auf der der Ohnmacht. Das müssen wir gerade weltweit und auch bei uns direkt erleben: Wenn es Familien verwehrt wird, zusammenleben zu können, wenn legale Wege Grenzen zu überschreiten, abgeschafft werden, wenn Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen werden und in ein vermeintliches Heimatland zurückkehren müssen, das keine Heimat mehr ist oder diese Rückkehr Gefahr bedeutet. Die Frage von Macht und Ohnmacht betrifft auch meine eigenen ganz persönlichen Grenzen. Zum einen kann es eine ermächtigende und bestärkende Erfahrung sein, eigene Grenzen zu ziehen, sie klarzumachen und deren Einhaltung durch andere einzufordern. Wenn ich meine eigenen Grenzen setze, um mich zu schützen, dann hat das etwas sehr Machtvolles. Zum anderen ist die Erfahrung, dass die von mir gesetzten Grenzen oder meine natürlich existierenden Grenzen ignoriert, überschritten oder durchbrochen werden, meist schmerzhaft, anstrengend und lähmend. Das Überschreiten meiner Grenzen kann passieren, weil das Leben es erfordert, weil ich Verantwortung trage, weil ich mich verantwortlich fühle, weil es von mir erwartet wird o.ä. Oder meine Grenzen werden durch andere überschritten - dies hat immer etwas Gewaltvolles. Die ursprüngliche Machterfahrung der Grenzziehung wird zur Ohnmachtserfahrung, der Grenzüberschreitung. Diese Erfahrung kann mich verändern - für den Moment, aber auch für immer. Leben ohne Grenzen gibt es nicht. Die Botschaft des Karfreitags ist: jede Grenze kann überwunden werden, sogar die des Todes. Grenzerfahrungen sind von unterschiedlicher Intensität und Dauer, aber nicht ewig. Wenn ich mich den Grenzen stelle, so verändert das in der Regel etwas, in mir und/oder meinem Umfeld. Wir glauben, dass G*tt mit seiner Menschwerdung die Grenze zwischen dem G*ttlichen und dem Menschlichen überschritten hat. G*tt ist Mensch. Und stirbt in Jesus den gleichen Tod wie alle Menschen. (Katrin Altmaier, Martina Fries, Stefanie Louis, Tina Wagner)

Fastenzeit und Umkehr gehören zusammen. Im Markusevangelium heißt es „Kehrt um und glaubt an das Evangelium”. „Kehrt um” ist dabei die Übersetzung des Griechischen „metanoiete”, was eine Zusammensetzung aus meta und noos ist. Meta meint ursprünglich einen Orts- und/oder Zustandswechsel. Noos meint Geist, Gedanke. Metanoia / Umkehr meint also eigentlich einen Ortswechsel, sich in Bewegung setzen und von einem Ort zu einem anderen gelangen, was auch bedeutet, eine Grenze zu überschreiten, sich zu verändern - zunächst räumlich, dann aber auch wesentlich. Als Haltung: größer denken. Etwa so wie es das bekannte Zitat ausdrückt: „Alle sagten das geht nicht. Dann kam eine, die das nicht wusste und hat es einfach gemacht.“ Metanoia / größer denken als Haltung bedeutet, sich nicht mit dem zufrieden zu geben, was vermeintlich nicht gehen kann. Diese Haltung ist anstrengend, denn sie führt dazu, dass ich stets hinterfrage, Neues ausprobiere, mich also bewege und nicht in einer bequemen Opferhaltung verharre. Wenn ich von einem Ort zu einem anderen will, gibt es zwischen beiden eine Grenze. Diese muss ich erkennen, anerkennen, erst dann kann ich sie überschreiten. Das heißt, die Metanoia ist keine Leugnung der Realität, sondern im Gegenteil eine kompromisslose Anerkennung derselben. Deshalb, weil ich sie aber so nicht stehen lassen will, weil ich sie verändern will, versuche ich einen Perspektiv- und/oder Ortswechsel. Dieser überwindet dann die Grenze und die Gegenüberstellungen. Zudem gibt es keine Erfolgsgarantie. Nicht immer, vielleicht sogar eher selten, zahlt sich das Wagnis aus. Jesus endet am Kreuz, erst einmal. Aber nur, wenn ich mich bewege, größer denke, kann ich Neues entdecken. Und das ist immer wertvoll.

In dieser Fastenzeit bieten wir Haltungen an, die wir als hilfreich erachten in den Entwicklungen der Welt. Eine dieser Entwicklungen sind neue Grenzziehungen – zwischen denen und uns, Deutschen und Ausländer*innen, vermeintlich woken und vermeintlich normalen Menschen, … . Dabei werden diese Grenzen nicht einfach nur gezogen, sondern sie werden verbunden mit Abwertung, Ablehnung, oft auch Demütigung und Übergriffen. Wie alles, so sind auch Grenzen ambivalent. Sie trennen, was zur Spaltung führt, aber auch dem Schutz dienen kann. Was alle Grenzen jedoch gemeinsam haben, ist, dass sie es eng(er) machen, dass sie die Freiheit von allen, die von ihr betroffen sind, beschneiden. Wenn wir als für die Gegenwart hilfreiche Haltung Grenzen überwinden anbieten, so geht es um diesen Aspekt: Grenzen zu überwinden bedeutet ein Mehr an Freiheit, Leben, Gemeinschaft für alle und damit auch ein Weniger an Ohnmacht, Unterdrückung und Unfreiheit. Im Begriff des Überwindens steckt die Art und Weise des Wie drin: Es geht nicht um ein gewaltsames Übertreten oder brutales Niederreißen, sondern es muss vorsichtig und mit Wertschätzung erfolgen. Es geht um Klarheit in dem, was nicht akzeptiert wird und die gleichzeitige Suche nach dem Gemeinsamen. Und wenn es dieses nicht gibt, so darf es auch ein Nebeneinander geben, das dann aber auf Übergriffe verzichtet. Wenn wir gesetzte Grenzen nicht einfach akzeptieren oder sogar verteidigen, sondern nach dem Verbindenden suchen, dann schafft das Gemeinschaft und kann Ohnmacht überwunden werden. Dr.in Martina Fries

In dieser Fastenzeit bieten wir in jeder Woche Haltungen an, die uns generell und/oder in der momentanen gesellschaftlichen Situation, die bei vielen ein Gefühl der Ohnmacht auslöst, als hilfreich für ein friedvolle(re)s Leben erscheinen. Heute schlagen wir das Wahrheit Suchen vor. In ihm geht es um etwas Gemeinsames, Verbindendes, Starkmachendes. Die Suche nach Wahrheit übersteigt meine Ohnmacht und kann sie so verändern. “Anekdoten sind keine Fakten” - so bringt Emily Oster die Tatsache auf den Punkt, dass Einzelerfahrungen zwar einen wahren Kern haben, aber aus diesen keine Allgemeingültigkeit, keine Wahrheit, ableitbar ist. Wer die Wahrheit sucht, kann in dieser Suche nicht nur bei sich selbst verweilen. Die Suche nach Wahrheit erfordert Austausch und Diskussion mit anderen, auch mit denen, von denen ich weiß, dass sie anderer Meinung sind wie ich. Sonst bleibt sie eine Individualmeinung. Wahrheitssuche ist ein Prozess, ein leises Herantasten, ein Verwerfen von Wegen und Ansätzen, die sich als falsch erwiesen haben und sie ist ein ständiger Neubeginn. Wahrheitssuche ist nicht laut und aggressiv. Wahrheitssuche ist geprägt von Unsicherheiten und deshalb ist sie fragil und häufig nicht einfach zu ertragen. Die Lüge ist immer eine einfache Lösung. Wer lügt, schafft Abgrenzung und Distanz. Die Suche nach Wahrheit schafft hingegen Gemeinsames und Nähe. Wer die Wahrheit sucht , kann Falschmeldungen korrigieren und Verleumdungen und Populismus entgegentreten. Somit hilft die Wahrheitssuche, die Würde von Menschen zu schützen und unsere freiheitliche Gesellschaft zu bewahren und weiterzuentwickeln. Sie verbindet mich mit anderen Menschen und das kann mir Hoffnung in hoffnungslos erscheinenden Zeiten geben. (Katrin Altmaier & Martina Fries)

Zum Beginn der christlichen Fastenzeit hören wir den Satz: „Staub bist du und zu Staub kehrst du zurück.“ Mein erster Gedanke hierzu war: Das macht doch sehr demütig. Es ist eine erinnernde Mahnung daran, dass wir alle sterben müssen. Ich höre darin auch ein: „Nimm dich nicht so wichtig.“ Und das ist schon fast entlastend. Demütig sein heißt dabei nicht, sich selbst kleiner zu machen, als man ist – auch wenn die christliche Tradition das oft so praktiziert hat. Hier gab es immer wieder eine Gratwanderung zwischen besonnener Selbstbetrachtung und maßloser Selbsterniedrigung, die letztendlich doch wieder in einer Überheblichkeit gegenüber all denjenigen mündete, die diese Selbsterniedrigung nicht praktizierten. Nein, besser gefällt mir der Gedanke von Carolin Emcke, die von einem „entschützten Leben“ spricht: Ein Leben, in dem wir uns weniger voneinander abschotten. In dem wir uns entpanzern, offener werden und entschützter miteinander umgehen. In dem wir feinfühliger gegenüber dem sind, was uns tatsächlich begegnet, und entsprechend darauf reagieren. Ein Leben, in dem wir nicht unwichtig sind – aber alle anderen ebenso wichtig. Das verändert etwas. Denn dann sehen wir nicht nur uns selbst, sondern erkennen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind – indem wir alle gemeinsam unterwegs sind. (Katrin Altmaier, KHG Saarbrücken )

Versöhnlich zu sein fällt mir oft wahnsinnig schwer. Dabei weiß ich, dass es mir guttun würde. Das Gefühl des Gegeneinanders, der Wut, schadet mir auf Dauer. Ein versöhnlicher Blick auf die Menschen um mich herum, auf mich selbst und auf unsere Umwelt enthärtet mein Herz und weitet meinen Blick. Es lässt mich empathischer sein und führt wiederum dazu, dass ich mich mehr verbunden mit anderen fühle. Als Christ*innen glauben wir daran, dass G*tt sich schon längst mit uns versöhnt hat in dem er in Christus die Entfremdung zwischen Mensch und G*tt überwunden hat. Christus hat dies praktisch im Akt der vollkommenen Zurücknahme des eigenen Wesens gemacht. Er legte die g*ttliche Gestalt ab. Und das aus Liebe zu uns. Versöhnlich kann ich also nur sein, wenn ich mich selbst zurücknehme, wenn ich bereit bin, ehrlich darauf zu schauen, was mich so unversöhnlich stimmt und wenn ich offen dafür bin, den anderen Menschen als gleich wichtig und gleichwertig zu betrachten, zuzuhören und verstehen zu wollen. Wenn ich mir den anderen Menschen sozusagen „entfremde“. Das ist herausfordernd und es hat Grenzen. Mit manchen Handlungen und Haltungen kann ich mich auch nicht versöhnen.

Die Fastenzeit startet mit dem Aschenkreuz. Die Asche, mit der dieses auf die Stirn gezeichnet wird, ist hergestellt aus Palmzweigen des letzten Jahres. Asche ist das, was übrigbleibt wenn Organisches verbrennt. Sie verbindet also alles Lebende miteinander. Am Ende sind alle und alles gleich. Das Aschenkreuz ist also auch ein Zeichen dafür, dass jede*r einzelne von uns mit allem und allen verbunden ist in der Herkunft und dem Ziel des Seins. Der amerikanische Psychologe Carl Rogers hat gesagt: „Das Persönlichste ist das Allgemeinste“. Dies wendet den Gedanken, dass alle Menschen rein physikalisch miteinander verbunden sind, auf das emotionale Sein des Menschen an. Jede*r kennt Verzweiflung, Schmerzen, Liebeskummer, Freude, Euphorie und viele weitere Gefühle. Auch wenn die auslösenden Ereignisse, die Beteiligten und die Situationen ganz andere sind – die Emotion verbindet uns miteinander. Und im Glauben setzen wir sogar noch eins drauf: Christ*innen glauben, dass alle Menschen g*ttlich sind und darin einander völlig ebenbürtig. Und dass G*tt selbst in Jesus Christus Mensch geworden ist und deshalb in allem (außer der Sünde) uns gleich, physikalisch wie emotional. Ich bin mit allem und allen verbunden – eine Haltung, die Ohnmacht, Vereinzelung, Spaltung und Hass überwinden kann.

Gestern war Aschermittwoch und damit der Start in die christliche Fastenzeit. Auch wenn wir gerade so schöne sonnige Tage genießen dürfen, im Fokus des Aschermittwochs und der Austeilung des Aschenkreuzes an diesem Tag steht in kirchlicher Tradition weniger das Licht , sondern Buße und Fasten und die Erinnerung an Staub und Tod. In diesen Wochen kommt dazu noch das lähmende Gefühl, das sich seit der zurückliegenden Bundestagswahl zunehmend ausbreitet. Auch wenn die Ergebnisse zu erwarten waren, sind sie nun Gewissheit und in dieser Gewissheit erst recht angsteinflößend. Gerade die letzte Woche mit den verstörenden Bildern aus den USA und dem Anschlag in Mannheim haben bei mir nochmal das Gefühl der Ohnmacht verstärkt und zu ihr haben sich Wut und Verzweiflung gesellt und das Bedürfnis, den Kopf in den Sand zu stecken. Aber dann kommt die Frage in mir auf: Wohin führt diese Haltung auf Dauer? Mich, meine Umwelt und unsere gesamte Welt? Es wird nicht gut sein, wenn dieses Ohnmachtsgefühl zum ständigen Begleiter wird. Die Wochen der Fastenzeit, also der österlichen Bußzeit, in der es traditionell 40 Tage lang bis Ostern um Umkehr geht, sind ein guter Anlass, andere, vielleicht auch neue Wege zu suchen. Für die Fastenzeit wollen wir dir im Laufe der nächsten Wochen immer wieder Haltungen anbieten. Haltungen, die vom Aschermittwoch ausgehend helfen können, aus dem Gefühl der Ohnmacht (und vielleicht der daraus resultierenden Wut, Traurigkeit, Angst etc.) herauszutreten. Diese Haltungen teilen wir immer am Donnerstagabend bis einschließlich Gründonnerstag.

Sicherheit, Stabilität, Recht und Ordnung, Mehr und Wieder – um diese Zustände kreisen die Versprechen der Parteien zur Bundestagswahl. Sie greifen die Sehnsucht der Menschen auf. Niemand will in Unsicherheit, Chaos und im Untergang leben. Doch stimmt diese Analyse, die die Wahlkampfslogans der Parteien ja nur behaupten? Warum müssen wir wieder stolz sein? Warum sind wir es nicht einfach? Warum muss alles geändert werden? Ist wirklich alles so schlecht? Und so chaotisch? Und so ungerecht? Und so gefährlich? Ja, wir leben in unsicheren und gefährlichen Zeiten. Die Gegenwart ist so. Deshalb gibt es Freiheit auf der einen Seite, die zu Unsicherheit auf der anderen führt. Und sie ist gefährlich, weil die Klimakrise und der entfesselte Kapitalismus mit ihren Folgen uns bedrohen. Zu diesen Folgen gehört übrigens die Migration. Migrant*innen sind nicht die Ursache aller Probleme, sondern die Folge. Es ist verlockend, in der Unübersichtlichkeit der Gegenwart sich den einfachen Lösungen anzuschließen, den einseitig populistischen Stimmungsmacher*innen. Dass diese aber keine Lösungen für globale und extrem komplexe Probleme anbieten und diese sogar noch verschärfen, das zeigt die Geschichte der Vergangenheit wie Gegenwart. So verlockend es auch ist, mit Entweder-oder, wir gegen die, wird es nicht sicherer in unserer Welt. Nur, wenn wir diese propagierten Gegensätze überwinden und uns den Herausforderungen gemeinsam stellen, im Dialog, in Netzwerken, im wir, im sowohl – als auch, dann haben wir eine Chance, die Gegenwart möglichst gut zu gestalten. Was auch hilft: der genaue Blick auf diese Gegenwart: es ist nicht alles schlecht. Es gibt mehr als schwarz und weiß. Und: Vertrauen darauf, dass es gut ausgehen kann, selbst wenn alle Logik etwas anderes annehmen lässt. Mir hilft der Glaube beim Vertrauen und die Botschaft, dass Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt tragen können. So habe ich es nicht nötig, am 23.2. eine populistische oder gar extremistische Partei zu wählen. Dr. Martina Fries